Die Dorschversteher: Kooperation von Rostocker Biologie- und Informatik-Forschern, um dem Leben der Dorsche auf die Schliche zu kommen

2016-12-14 - Der Ostsee-Dorsch will schon seit Jahren nicht mehr so wie Berufs- und Freizeitfischer wollen: Es gibt im Westen zu wenig Nachwuchs, im Osten sind die meisten Dorsche eher klein und viele der Verbleibenden unterernährt, obwohl es ausreichend Nahrung gäbe. Diese "Hungerdorsche" sind für den Fang wertlos. Nach den Jahrhundert-Einströmen frischen Nordseewassers in die Ostsee seit Dezember 2014, die salz- und sauerstoffreiches Wasser in das Bornholmbecken östlich der dänischen Insel brachten, erholt sich der dortige Dorschbestand wieder. Allerdings sind trotz intensiver Forschung die Mechanismen, wie die Umweltbedingungen auf diesen Dorschbestand wirken, nicht ausreichend verstanden, und die Änderungen der Vergangenheit lassen sich rückwirkend nicht mehr beobachten. Neuartige Modellansätze könnten hier die entscheidenden Einsichten liefern. Eine Forschungskooperation des Thünen-Instituts für Ostseefischerei und des Instituts für Informatik der Universität Rostock betritt bei der Erforschung dieser ökologischen Zusammenhänge Neuland.

"Bisher wurden Veränderungen von Dorschbeständen eher als Veränderungen von Fischkonzentrationen dargestellt", erklärt die Projektleiterin der Informatik-Seite, Frau Prof. Uhrmacher vom Institut für Informatik. "Die Daten aus den Fängen der kommerziellen Fischerei und aus fischerei-unabhängigen Forschungsreisen werden bisher in eine große Bilanzgleichung gesteckt und diese ist dann die Basis für Fangquotenempfehlungen." In diesem Gleichungssystem konnten leider Randbedingungen wie die Entwicklung des Salz- und Sauerstoffgehalts in verschiedenen Tiefen und deren Auswirkungen auf Wachstum und Sterblichkeit der Dorsche bislang nicht berücksichtigt werden - und schon gar nicht das Verhalten individueller Dorsche.

Maria Pierce, Mitarbeiterin und Doktorandin im Projekt, ist die Grenzgängerin zwischen den Wissenschaftsdisziplinen. Sie hat ein Bachelor-Studium Physik und ein Master-Studium Aquakultur abgeschlossen und ihre Masterarbeit mit Informatikmethoden am Lehrstuhl von Frau Prof. Uhrmacher verfasst.  Kern ihrer Masterarbeit waren die Auswirkungen von chronischem Sauerstoffmangel (Hypoxie) auf einzelne Dorsche. Pierce: "Im bisherigen Modell werden zu wenige der relevanten, obwohl interessanterweise verfügbaren, Informationen erfasst. Bisher galt: Gibt es genug Futter für den Dorsch, geht es ihm gut. Aber ein Dorsch kann nur verdauen, wenn er genug Sauerstoff in der richtigen Wassertiefe hat." Im Projekt soll nun der Dorsch mit seinem Laich-, Bewegungs- und Fressverhalten genauer modelliert werden. Danach können größere Gruppen von Dorschen im Computer simuliert werden - und in der Zukunft vielleicht sogar Aussagen für einzelne Bestände gemacht werden und die Bestandsentwicklung vorausberechnet werden. Ursächliche Zusammenhänge (Kausalitäten) sind dabei dann wichtiger als rein statistische Zusammenhänge (Korrelationen).

Die Rostocker Informatiker sind Experten für individuenbasierte Modellierungsmethoden. Das heißt, nicht statistische Größen wie Fischkonzentrationen werden erfasst und in Gleichungssysteme gepackt, sondern individuelle  Dorsche werden in ihrem Verhalten und ihrer Interaktion mit der Umgebung modelliert und im Rechner nachgebildet. So kann der Einfluss der Umweltbedingungen, unter denen die Dorsche in ihrem Lebensraum leben, besser abgebildet und simuliert werden. Dafür verwenden die Rostocker als eine von weltweit wenigen Forschungsgruppen Mehr-Ebenen-Modelle, in denen verschiedenste Informationen kombiniert werden können: langfristige Prozesse wie Klimaveränderungen, aktuelle Umweltdaten bis hin zu Modellen zum Stoffwechsel einzelner Fische. Die Rostocker Informatiker versuchen also, den Dorsch in seiner Umgebung, der Ostsee, besser zu verstehen.

Das Wissen über den Dorsch und die Bedingungen in der Ostsee stammen von Biologen des Thünen-Instituts für Ostseefischerei, die dieses Kooperationsprojekt initiiert haben. Dr. Krumme, Projektleiter der Biologie-Seite und stellvertretender Direktor des Instituts, hofft: "Das Simulationssystem der Informatiker liefert uns einen Ansatz, mit dem wir die Zusammenhänge besser erforschen können. So können wir hoffentlich bald auch besser verstehen, wie die Dorsche in ihrem besonderem Lebensraum leben, und was sie dünn macht oder warum wir nur noch so wenige große Dorsche finden." Da im größten Brackwassergebiet der Erde, der Ostsee, oft im Trüben gefischt werden muss, erhoffen sich die Fischereiexperten aus diesen Simulationsansätzen, die Änderungen im Zustand der Dorsche der östlichen Ostsee der Vergangenheit nachstellen zu können und vielleicht sogar belastbare Vorhersagen für die Zukunft treffen zu können.

Wie sehr rein statistische Vorhersagen von der Realität abweichen können, sieht man übrigens am Projektteam selbst. Dass an einem Kooperationsprojekt von Biologie und Informatik zu 50% Wissenschaftlerinnen beteiligt sind, hätten sicherlich viele erwartet. Dass aber gerade die Informatikseite zu 100% weiblich besetzt ist, widerspricht jeder Erwartung.

Das Thünen-Institut für Ostseefischerei in Rostock entwickelt Konzepte für eine nachhaltige, ökologisch verträgliche und wettbewerbsfähige Fischerei in der Ostsee. Unter anderem versuchen die Wissenschaftler, grundlegende Fragen zur Ökologie insbesondere der genutzten marinen Fische wie den Dorschen in der Ostsee zu beantworten, in enger Zusammenarbeit mit dem Internationalen Rat für Meeresforschung (ICES). Neben der angewandten Forschung und dem Monitoring der Fischbestände in der Ostsee spielt vor allem die Beratung der Bundes- und Europa-Politik eine Hauptrolle. Das Thünen-Institut ist ein Bundesforschungsinstitut im Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Landwirtschaft und Entwicklung (BMEL).

Die Universität Rostock wurde 1419 gegründet. Sie ist die älteste Universität im Ostseeraum und die drittälteste Deutschlands. An neun Fakultäten werden für derzeit 14.000 Studierende 100 Studienrichtungen angeboten. Forschungsschwerpunkte sind u.a. Alternative Energien, Assistenzsysteme, Biomedizinische Technik, Laser-Optik, Lebenswissenschaften und Regenerative Medizin. In der Profillinie "Maritime Systeme" wird ein interdisziplinärer Forschungsschwerpunkt betrieben, der beispielsweise meeresbiologische Forschung und Forschung im Bereich Informatik (Modellierung und Simulation) miteinander verknüpft.

Das Institut für Informatik der Universität befindet sich im neuen Konrad-Zuse-Haus in der Rostocker Südstadt. Derzeit forschen und lehren 15 Professorinnen und Professoren sowie etwa 100 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter (davon 50 aus Drittmitteln finanzierte) für etwa 500 Studentinnen und Studenten aus den Studiengängen Informatik, Wirtschaftsinformatik und Informationstechnik / Technische Informatik. Ein Forschungsschwerpunkt ist die Modellierung und Simulation von veränderlichen Systemen sowie die Vorhersage des Verhaltens des Gesamtsystems. Grundlagen für die Modellierung und Analyse können sehr große Datenbestände aus Sensornetzwerken sein (Big Data Analytics).

Kontakt:
Prof. Dr. Andreas Heuer, Leiter der Kommission Öffentlichkeitsarbeit am Institut für Informatik der Universität Rostock, Tel: 0381-498-7590, Fax: 0381-498-7592, E-Mail: andreas.heueruni-rostockde
Web: http://www.informatik.uni-rostock.de/schnelleinstieg/journalisten

Kontakt speziell für das Dorschprojekt:
Dr. Uwe Krumme, Thünen-Institut für Ostseefischerei, Tel: 0381-8116-148, E-Mail: uwe.krummethuenende
Prof. Dr. Adelinde Uhrmacher, Institut für Informatik, Universität Rostock, E-Mail: adelinde.uhrmacheruni-rostockde
Maria Pierce, Thünen-Institut für Ostseefischerei, Doktorandin am Institut für Informatik, E-Mail: maria.piercethuenende

Meldung als PDF (mit Fotos) und DOCX (ohne Fotos) zum Download

Alle Fotos: Copyright Julia Tetzke, ITMZ der Universität Rostock
(Click für hohe Auflösung)

Maria Pierce und Dr. Uwe Krumme im Thünen-Institut für Ostseefischerei
Maria Pierce mit Fotos vom normalen Dorsch (oben) und Hungerdorsch (unten)
Maria Pierce vor dem Thünen-Institut für Ostseefischerei